Orgelmodell

Prof. Dr.-Ing. Franka-Maria Mestemacher, Hochschule Stralsund

Funktionsmodell einer Orgel mit Schleiflade und mechanischer Traktur

Das Modell zeigt die ursprüngliche Bauform, in der Orgeln seit dem Mittelalter realisiert werden. Erst im Laufe der Romantik, als man zu immer größeren Dispositionen*) strebte, traten technische Probleme auf, die sich für den Organisten vor allem durch die Schwergängigkeit des Intrumentes offenbarten. Ende des 19. Jhd.’s kam dann im Zuge des allgemeinen technischen Fortschritts die „pneumatische Traktur“ auf; später auch die elektrische bzw. elektropneumatische Traktur. Das war damals Hightech! Die Freude daran währte allerdings nur eine gewisse Zeit lang. Denn diese Neuerungen hatten auch ihre Nachteile. Abgesehen von der Reparaturanfälligkeit verliert der Organist jedes Feingefühl für die Ventilöffnung bzw. Tonansprache. Bei der herkömmlichen, mechanischen Traktur ist das anders, da dort infolge des Staudrucks beim Niederdrücken der Taste ein leichter Druckpunkt überwunden werden muß. Für die Artikulation beim künstlerischen Orgelspiel ist das ein entscheidender Vorteil. Man kann dies am Modell nachempfinden.

Bemerkenswert ist, daß man heute für Orgelneubauten wieder vollständig zur mechanischen (Spiel-)traktur zurückgekehrt ist. Bei Restaurierungen von Orgeln, die – wie die hiesige BUCHHOLZ-Orgel – im Originalzustand rein mechanisch waren, strebt man dies natürlich auch wieder an. Das erklärt vor allem die nicht unerheblichen Restaurierungskosten für die Rückführung in den urprünglichen Zustand.

*) Auflistung aller klingenden Register und Spielhilfen, einschl. der Zugehörigkeit zum jeweiligen Werk


Das Funktionsprinzip ”Schleiflade“

Um die Funktionsweise einer mechanischen Orgel mit Schleifladen zu erklären, wird diese durch nebenstehendes Modell auf ihre wesentlichen Bestandteile reduziert. Dabei beschränkt sich die Querausdehnung, die in der Realität bis zu fünf Oktaven (= 60 Töne) umfaßt, hier auf einige wenige Töne.

In der Balganlage wird ”Orgelwind“ erzeugt und über Kondukten – das sind hölzerne Röhren meist rechteckigen Querschnitts – in die Windlade geleitet. Der untere Teil der Windlade, der sog. Windkasten kann durch die Glasscheibe eingesehen werden. Dieser Raum steht während des gesamten Orgelbetriebs unter konstantem Druck von 50 . . . 80 mmWS (entspricht ca. 5 . . . 8 mbar). Damit der Orgelwind bis zur Pfeife gelangt, muß dieser noch zwei Hindernisse überwinden:

• die Ventile, welche über die Traktur mit den Tasten verbunden sind und vom Organisten in Ausübung seiner Tätigkeit ”angespielt“ werden, sowie

• die Registerschleifen, mit denen ein Register ”gezogen“ (= eingeschaltet) oder ”abgestoßen“ (= ausgeschaltet) werden kann.

Wird also eine bestimmte Taste gedrückt, so dringt der Wind zunächst bis in die oberhalb des Ventils liegende Tonkanzelle ein (kleines, rundes Fenster). Dann erklingen alle diejenigen Pfeifen, die auf dieser Tonkanzelle stehen und deren Register gezogen sind.

Das ” Ziehen“ oder ” Abstoßen“ eines Registers erfolgt auf äußerst simple Weise: Schmale Holzbretter, die sog. Registerschleifen, die im Abstand der Tonkanzellen gelocht sind, stehen bei gezogenem Register auf ” Durchgang“, so daß damit das gesamte Register spielbereit ist. Anderenfalls sind sämtliche Bohrungen gleichzeitig versperrt — das Register erklingt nicht.

Als Register bezeichnet man eine Pfeifenreihe mit gleichem Klangcharakter. Durch die Auswahl der gezogenen Register hat man an der Orgel (im Gegensatz zum Klavier) also zusätzlich die Möglichkeit einer sehr weitreichenden Klanggestaltung. Bereits bei kleinen Kirchenorgeln (< 20 Register) ist die Vielfalt musikalisch vertretbarer Registrierungen beeindruckend. Mit der Orgel wurde gewissermaßen die Erfindung des Synthesizers vorweggenommen.


Die weitere technische Entwicklung

Orgeln, die nach dem gezeigten Prinzip vollmechanisch arbeiten, waren ausgehend von der antiken Orgel im Laufe der Jahrhunderte immer weiter verfeinert worden und erlebten ihren (vorläufigen) Höhepunkt zur Zeit von BUXTEHUDE und BACH. In der Folgezeit wandelte sich das Musikgeschehen erheblich. Die Bedeutung der Orgelmusik reduzierte sich weitgehend auf den liturgischen Einsatz, und zur technischen Weiterentwicklung von Orgeln bestand kein Anlaß.

Das änderte sich erst im 19. Jhd. wieder, als der Wunsch nach immer größeren Orgeln mit nunmehr romantischem Klangideal aufkam. Orgeln waren nun immer häufiger auch in Konzertsälen zu finden. Als problematisch erwies sich in der damaligen Orgelentwicklung der gestiegene Windbedarf von immer mehr und immer größeren Registern. Strömungsbedingte Druckverluste und weit ausladende Trakturen sorgten schließlich dafür, daß die Orgeln immer schwergängiger wurden.

Ende des 19. Jhd.s wurde das Problem mit Hilfe der Röhrenpneumatik angegangen, die sich Jahrzehnte später in der Automatisierungstechnik bestens bewähren sollte. Physikalisch war das damals ” High Tech“ — musikalisch und auch betriebstechnisch gab es aber gravierende Probleme: Denn die Pneumatik führt zu Verzögerungen, die umso größer ausfallen, je tiefer der Ton ist. Die klare Ansprache barocker Register, welche wir heute wieder als orgeltypisch empfinden, und die physikalisch notwendig ist für das virtuose Orgelspiel im Stil von BUXTEHUDE und BACH, war nun endgültig dahin. Außerdem war die neue Technik sehr störanfällig. Eine Eigenschaft, die die pneumatische Orgel nie ganz losgeworden ist. Im Gegenteil: Mit dem Aufkommen der durchgehenden Kirchenbeheizung, wie sie nach dem 2. Weltkrieg in Westdeutschland zum Standard wurde, waren pneumatische Orgeln praktisch zum Tode verurteilt. Der Grund dafür liegt darin, daß die in pneumatischen Orgeln zu Tausenden verwendeten Lederbälgchen eine Mindestluftfeuchtigkeit brauchen, um nicht zu verspröden.

Abgesehen von der Orgelbewegung um Albert Schweitzer, die sich erfolgreich – fast im Sinne eines Kulturkampfes – für die Rückbesinnung zur barocken Orgelmusik einsetzte und damit eine neobarocke Phase des Orgelbaus auslöste, gab es also auch technische Gründe, warum sich die Pneumatik wie später auch die elektrische Traktur nie richtig durchsetzen konnte.

Über die musikalische Entwicklung hinaus interessant ist: Der Orgelbau ist heute wieder bei der mechanischen Schleifladen-Orgel angekommen. Und zwar mit den Materialien aus Buxtehudes Zeiten wie Holz, Metall, Leder, Filz und Knochenleim.